Einer der herausragendsten Texte, die je zum Thema „Selbständigkeit“ geschrieben wurden ist der 1841 erschienene Essay „Self-Reliance“ des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803-1882). Brillant schildert Emerson darin die gesellschaftliche Realität, die Prägung der Menschen auf konformistisches Verhalten aber auch das, was ein selbstbestimmter, freier Mensch sein kann, wenn er den Mut aufbringt sich gegen den Anpassungsdruck zu wehren und sich als Individuum durchzusetzen. Für alle freiheitsliebenden Individuen ist dieser Aufsatz ein Muss und tatsächlich ist er bis heute einer der großen „Offenbarungstexte“ der ganzen Selbsthilfeliteratur. Emerson steht ganz in der Tradition (wenngleich er selbst nicht viel von Tradition hielt) der westlichen Kultur, die in ihrem Kern durch den Aufstand des Individuums gegen die Gattung gekennzeichnet ist.
Die Realität des „gewöhnlichen“ Menschen
Um es ganz deutlich zu sagen, die meisten Menschen leben wie Schafe, folgen Autoritäten, die heutzutage freilich anonym sind und deshalb weniger erkannt werden. Im Englischen ist deshalb auch der Begriff „Sheaple“ („Schafleute“) gebräuchlich. Die meisten Menschen werden durch ihre Umwelt viel mehr geformt, als dass sie selbst Einfluss auf diese nehmen. Sie sind passive Produkte, anstatt aktive Individuen, Schaffende zu sein. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass die meisten Menschen weitaus mehr konsumieren, als sie selbst Produktives hervorbringen.
Es ist leicht für den Menschen nach der Meinung der Gesellschaft zu leben, wenn er in dieser lebt, ebenso, wie es für den einsam und zurückgezogen Lebenden leicht ist nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben. Doch wird es sehr schwer, wenn einer nach seiner eigenen Weise unter vielen anderen leben möchte. Die meisten scheuen die Konfrontation, gehen den leichten Weg und werden damit zu angepassten Mitgliedern der Gesellschaft.
Die Menschen haben Angst davor Fehler zu machen und klammern sich deshalb ängstlich an das Bekannte und vermeintlich „Sichere“. Wahrscheinlich die größte Gefahr des Konformismus’ besteht darin, dass er den Menschen nicht nur in Teilen, sondern vollkommen korrumpiert. Der Massenmensch ist derart in seinem künstlichen, antrainierten Verhalten erstarrt, dass man kein wahres Wesen, keinen Kern mehr erkennen kann. Es ist deshalb auch nicht mehr möglich Menschen wirklich einzuschätzen. Hauptsächlich deshalb, weil ein solcher Kern gar nicht mehr vorhanden ist. Abraham Maslow hat in seinen Studien zu den „Selbstverwirklichern“ darauf hingewiesen, dass „echte“ freie Menschen auch nur das Echte und Authentische schätzen und sich deshalb meist wenig mit gewöhnlichen Menschen abgeben, die größtenteils gesellschaftliche Kunstprodukte sind.
Die Gesellschaft hasst das selbständige Individuum, sie will keine freien Menschen und droht mit Außerseitertum und Ausschluss, sollte man ihr nicht folgen. Die Gesellschaft lebt nicht in der Realität, sondern in Worten, Konzepten und „Gesetzen“.
Das Erwachen des Individuums
Kein bewusst lebender Mensch kommt über kurz oder lang an der Einsicht vorbei, dass Nachahmung Selbstmord ist. Jeder sehnt sich nach Erfolg und Glück im Leben, doch die wenigsten orientieren sich dabei an sich selbst, sondern studieren „Vorbilder“, versuchen Idolen nachzueifern und sind ständig auf der Suche nach der „geheimen Formel“, die all ihre Träume erfüllen soll.
Die Schwierigkeit für das Individuum besteht nicht so sehr darin die Ketten zu erkennen, die es am freien Leben hindern, sondern an der Entwicklung des entsprechenden Mutes, der entsprechenden Charakterstärke, um sein Geburtsrecht, die Freiheit, in Anspruch nehmen zu können. Es wird nur allzu oft vergessen, dass Freiheit etwas Aktives ist, etwas, das man sich nimmt. Meist wird Freiheit jedoch als etwas Passives verstanden. Eine solche Freiheit ist jedoch ein reiner Schein, denn sie besteht lediglich darin, dass einem ein Spielraum gewährt wird, dessen Kontrolle liegt jedoch völlig außerhalb des einzelnen Individuums.
Emerson glaubte fest an das Genie des Individuums, an seine Fähigkeit Einzigartiges hervorzubringen. Er definiert Genie als „an den eigenen Gedanken zu glauben, – zu glauben, dass, was für uns im Innersten unserer Seele wahr ist, wahr sein muss für alle Welt.“ Auch sei letztlich nichts heilig als die Integrität des eigenen Geistes des Individuums. Kein Gesetz könne heilig sei, als jenes der eigenen Natur. Er geht sogar so weit, dass er meint „ein Mann muss sich selbst aller Opposition zum Trotz durchsetzen; als ob alles außer ihm nur ein Schein- und Eintagsleben führen würde.“ Weiters führt er aus: „mich kümmert einzig, was ich zu tun habe, nicht was die Leute denken. Diese Regel, gleich schwer zu befolgen im wirklichen wie im geistigen Leben, macht den ganzen Unterschied zwischen Größe und Gemeinheit aus.“
Wenn wir den Vorstellungen anderen folgen, verraten wir uns dabei selbst und vergeuden mehr noch unsere Kräfte. Wir müssen auf unsere Träume achten, auf unsere Intuition. Gerade jene Dinge, die Eindruck auf uns machen, sind ein guter Hinweis darauf, wo unsere Berufung liegt. Es gibt einen guten Grund, warum uns etwas anspricht und dieser Grund ist nicht willkürlich! Wir müssen sein wie die Kinder, die noch keinen rebellischen oder zerrissenen Geist haben, einfach und nüchtern die Realität erkennen und schnelle und richtige Urteile über Menschen und das Leben treffen. Bei der Entdeckung des eigenen Weges geht es nicht darum, etwas dazuzulernen, sondern abzulegen, was Erziehung uns Sozialisation in uns hineingelegt haben, denn diese Dinge gehören nicht zu uns. Sich selbst zu vertrauen heißt im Kern sich selbst zu genügen, die anderen und die Dinge der Welt nicht zu brauchen.
Emerson zeigt sich als wahrer Freund des Menschen und zwar nicht des Menschen als Abstraktion, sondern als konkretem Wesen. So steht in „Self-Reliance“ auch folgender wunderbare Satz: „Der Mensch muss so viel sein, dass er Lage, Umstände und Umgebung gleichgültig macht. Jeder wahre Mensch ist eine Kausalität, ein Land, ein Zeitalter; braucht unendlich viel Raum und Zeit und Zahlen um seine Pläne ganz zu realisieren; – und die Nachwelt scheint seinen Schritten wie ein Klientenzug zu folgen.“
Emerson macht auch einige kritische Bemerkungen über das Lesen von Büchern und das Reisen. Zwar ist es nicht gegen diese, doch meint er das Aufschreiben habe das menschliche Gedächtnis geschwächt und Bücher trennen einen von der realen Erfahrung im Leben. Reisen wiederum sei sinnlos, solange man nicht eine Heimat besitze. Wenn man in die Welt hinausgehe, um Größeres zu erfahren, als man zu Hause vorfände, wäre dies ein Zeichen von Schwäche. Auch meint er einen wirklichen Fortschritt gäbe es für den Menschen überhaupt nicht, denn mit jeder Neuerung ginge auf der anderen Seite gleichviel verloren. Das sind sehr interessante Überlegungen, die man selbst fortsetzen sollte, gerade in unserer Zeit, in der die meisten vermeinen die technische Entwicklung habe das Leben besser gemacht. Auch wird ein kritisches Wort über die „Konsequenz“ gesprochen. Für Emerson ist es kein Zeichen von Größe, wenn ein Mensch konsequent ist, denn Konsequenz heißt auf einem alten Geleise unter Zwang fortzufahren. Ein wirklich konsequenter Mensch kann sich nicht ändern, kann nicht klüger werden und darf seine Meinung nicht ändern. Welch eine erbärmliche Gestalt! Auch hält Emerson wenig von „Weltverbesserern“, Sozialreformern und all den Gestalten, die unter dem Zwang stehen die Welt verändern zu wollen. Wer sich selbst nicht gefunden hat, wer nicht sich selbst verändert hat, der solle sich enthalten in die Welt hinauszugehen und dort etwas zu verändern.
Emerson für die heutige Zeit
Das 19. Jahrhundert war, insbesondere in den Vereinigten Staaten, eine Zeit des Individualismus‘. Und doch zeigt uns Emerson wie sehr auch damals die Menschen zum Konformismus neigten. Um wie vieles mehr würde er sich heute ins Zeug legen, sind die Menschen in unseren Tagen doch bei weitem weniger individualistisch, als in der Vergangenheit. Die angebliche Einzigartigkeit eines jeden einzelnen ist nichts anderes als eine große Illusion – eine Illusion in der die gesamte Gesellschaft unterliegt.
Emerson hatte noch die Hoffnung dass die Menschen allmählich so weit kommen werden, dass sie ihre privaten Bestrebungen in Zukunft so verfolgen werden, wie sie in der Vergangenheit die Ziele der Mächtigen verfolgten. Anstatt zu echten Individualisten geworden zu sein, ist der moderne Mensch wie ein sinnlos vor sich hintreibendes Atom geworden, dass sein Heil in der Rückkehr in den Schoß der Gesellschaft suchte und noch immer sucht. Die großen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts sind ein deutliches Zeichen dafür. Der heutige Mensch vertraut auf Besitz und darauf dass ihn die Gemeinschaft schützen würde – das ist ja auch das Versprechen mit dem die Menschen geködert werden ihr eigenes Leben zugunsten eines Gemeinwesens aufzugeben. Und machen wir uns nichts vor: jede Gesellschaft ist korrupt, ausnahmslos jede, die irgendwo auf der Welt zu finden ist. Wir sehen dies meist nur bei uns selbst nicht, sondern nur bei den anderen. Vertrauen auf Besitz und auf die Gruppe bezeugen nichts anderes als das mangelnde Selbstvertrauen des einzelnen, ebenso wie Bedauern, Reue und Unzufriedenheit Zeichen von Mangel an Charakterstärke, vor allem an Willenskraft, sind. Nur Feiglinge binden sich an die Dinge der Welt.
Was der heutige Mensch fühlt und was er denkt, kommt nicht von ihm, sondern ist von anderen übernommen, vor allem aber ist er Sklave der „öffentlichen Meinung“. Ängstlich fragt man sich, was die anderen wohl von einem denken, wenn man eine Sache tut, wenn man etwas sagt. Der Zensor sitzt schon lange im Kopf und nur noch in seltenen Fällen ist es notwendig, dass eine gesellschaftliche Sanktion erfolgen muss.
Schlussfolgerung
Gott hilft jenen, die sich selbst helfen. Wollen wir authentisch leben, wollen wir, dass unser Leben letztlich gelingt, führt kein Weg daran vorbei, dass wir unserem eigenen Stern folgen und der Welt entgegnen: „Ich habe lange Zeit nach deinen Vorstellungen gelebt, doch nun ist der Zeitpunkt gekommen, dass nur noch mein eigener Kompass mich leiten soll!“ Wir müssen uns nicht nur „mechanisch“, sondern vor allem geistig von der Welt trennen – dies müssen wir zu unserem eigenen Gesetz werden. Das meint auch Jesus damit, wenn er sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ und „Seid in der Welt aber nicht von der Welt.“
Euer O. M.
(P.S. was meine eigene Person betrifft, so hat das Studium dieses Aufsatzes den letzten Ausschlag gegeben, dass ich mich dafür entschieden haben die Schriftstellerei zu meiner Profession zu machen.)